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Chronos und Chthoniê: Figuren des Anfangs und der Gründung in antiker Mythologie und moderner Mythentheorie

Teilprojekt 1

Prof. Dr. Susanne Gödde
Institut für Religionswissenschaft, Freie Universität Berlin

Dr. Anna-Maria Gasser
Institut für Religionswissenschaft, Freie Universität Berlin

Julia Marie König
Studentische Beschäftigte

Das Teilprojekt untersucht Narrative des Anfangs und der Gründung in mythologischen und naturwissenschaftlichen Diskursen der griechischen Antike, aber auch die Berührungspunkte zwischen beiden Diskursen. Es geht chronologisch hinter die gut erforschten hellenistischen Aitiologien zurück in die Zeit der Archaik und der Klassik und fragt komparatistisch nach den differenten Erklärungsmodi und -absichten mythischer und natur- bzw. religionsphilosophischer Ursprungserzählungen. Während das aitiologische Erklären der Gegenwart durch ein vergangenes Ereignis ein zunehmend in den Fokus der Forschung rückendes Schema antiker mythischer Narrative ist, werden die vorsokratischen Kosmogonien bisher nicht oder kaum aitiologisch gelesen. Mit den titelgebenden Konzepten Chronos und Chthoniê verweisen wir auf unser Interesse an Zeit-Vorstellungen (linear, zyklisch, wiederholend, aber auch: vorzeitig) und an der Tiefendimension, die etwa mit der mythologischen Figur der Gaia (auch: Chthoniê) einhergeht. Wir untersuchen sowohl die Spannung zwischen göttlichen Schöpferfiguren und sogenannten ‘biomorphen’ (Walter Burkert) Entstehungsprozessen als auch die zwischen poetischer und naturwissenschaftlicher Auffassung des Weltbeginns.

Susanne Gödde bearbeitet im Fokusbereich I die mythologischen Narrative in ihrer literarischen Überformung in Epos, Lyrik und Tragödie. Sie blickt dabei vor allem auf uneindeutige, konfliktuöse oder gewaltsame Gründungsszenen, die eine lineare Herleitung der Gegenwart aus der Vergangenheit erschweren, etwa im Bereich der Stadt- oder Kultgründungen, aber auch in Hesiods Theogonie. Die Göttin Gaia bzw. die Erde interessiert hier sowohl in ihrer Ambivalenz als generative und zugleich hemmende Macht als auch mit Blick auf die Geschichte ihrer Umdeutungen als lebenspendender Organismus seit der Romantik und bis zu James Lovelock und Bruno Latour.

Anna-Maria Gasser widmet sich im Fokusbereich II der aitiologischen Dimension der frühgriechischen Kosmogonien mit einem besonderen Blick auf die Vorsokratiker. Sie fragt nach den spezifischen Zeitvorstellungen, die diesen naturphilosophischen Entwürfen zugrunde liegen, nach unterschiedlichen Konzepten des Anfangs und der Kausalität, nach der kosmogonischen agency und ihrer Narrativität. Zentral für die theoretische Erfassung der Aitiologie ist auch ihre Potenzierung: vorsokratische Kosmogonien erzählen nicht nur vom Anfang, sie werden nachträglich – seit Aristoteles – auch zum Anfang der Philosophie erklärt und so gewissermaßen als Fundament für das eigene Denken konstruiert.

Ziel des Teilprojekts ist eine Systematisierung der Typen und Funktionen anfänglichen Erzählens und mythologischer bzw. naturwissenschaftlicher Vergangenheitskonstruktionen. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, ob und in welchen Kontexten Anfänge als unhintergehbar, auratisch und linear-legitimierend ausgewiesen werden und wann und warum sie durch Umwegigkeit, ein szenisches Narrativ oder durch einen Bruch problematisiert werden.